Winzer-Typologie

Oder: Wie die Entscheidung zur Ernte gefällt wird

Die Weinlese ist der Höhepunkt des Winzerjahres und dementsprechend heikel ist auch die Fixierung des Erntetermines. Natürlich spielt der Reifeverlauf dabei eine wichtige Rolle, oft ist aber der Gesundheitszustand der Trauben mindestens ebenso wichtig und damit wiederum untrennbar verbunden das aktuelle Wetter und die Prognose mit all ihren Unwägbarkeiten.

Darüber hinaus benötigen die allermeisten Betriebe für die (manuelle) Ernte auch (Saison)Helfer, deren Verfügbarkeit bei aller Flexibilität natürlich auch einen gewissen Einfluß auf die Planung der Lese hat. Preßhaus und Keller sollten ebenfalls bereit sein, und die dementsprechenden Kapazitäten verfügbar.

Eine ungewöhnlich schnelle Ernte, z.B. wegen drohendem Schlechtwetter kann z.B. dazu führen, dass Rotweingärbehälter, die aus Platz- und Kostengründen mehrmals während einer Lese erst mit früheren und dann mit später reifen Sorten befüllt werden noch nicht frei sind, weil die erstgelesen Roten noch nicht fertig vergoren und abgepreßt sind.

Je nachdem wie sie diese vielen Faktoren gewichten bzw. wie ihre Entscheidungsfindung erfolgt, lassen sich folgende Winzertypen unterscheiden:

Der Konstante

Weinbauern dieses Typs lassen sich von Äußerlichkeiten nicht beeindrucken. Sie ernten nach dem Kalender, nicht nach dem Zustand der Trauben. Da sie schon zu Jahresbeginn wissen, dass sie ab dem 25. September ernten werden, weil sie immer ab dem 25. September ernten, fällt es ihnen auch leicht, Ende August oder Anfang September einen zweiwöchigen Urlaub, größere Bautätigkeiten im Betrieb oder andere Aktivitäten zu fixieren.

Wetterbedingte Vegetationsvorsprünge oder -rückstände von zwei oder drei Wochen lassen den Konstanten weitgehend kalt. Nur Extremjahre, die um einen ganzen Monat vom Durchschnitt abweichen können ihn dazu bewegen, seinen Erntetermin um einen oder vielleicht sogar zwei Wochen zu verschieben.

In solchen Jahrgängen klagt er dann gerne über allerlei Terminkollisionen, und erweckt dabei den Eindruck, dass ihn die Ernte wie eine unvorhersehbare Naturgewalt trifft, der er sich nur widerwillig beugt.

Der Übereifrige

Im Unterschied zu einigen anderen fällen die Winzer dieser Kategorie ihre Entscheidungen meist im Stillen. Währen die anderen noch untereinander über den Lesetermin diskutieren und/oder versuchen, so viele Informationen wie möglich einzuholen, rollen bei den Übereifrigen schon die Traktoren.

Grundlage für den Erntebeginn ist das Erreichen von gewissen Mindestgrenzen bei den Parametern Zucker und Säure, weitgehend unabhängig von den Möglichkeiten des Jahrgangs und von den Kriterien Aromareife, Tanninstruktur und Geschmacksharmonie. Typisch für diese Kategorie ist eine besonders große – schwierig zu kontrollierende und für die Betriebsgröße eigentlich überdimensionierte – Erntemannschaft und eine dadurch noch zusätzlich beschleunigte und hektische Lese.

In gewisser Weise ist der Übereifrige das Gegenteil des Konstanten. Während nämlich letzterer in unserer Region oft zu spät kommt (und daher meist für einen „altmodischen“, von Überreife, hohem Alkohol und/oder Restsüße geprägten Weinstil steht), hat ersterer keine oder zumindest weit geringere Probleme mit (zu) niedrigen Säurewerten, (Edel)Fäule und hohen natürlichen Alkoholgehalten.

Das er sich das geringere Wetterrisiko mit unreifen halbreifen mehr oder weniger von der physiologischen Reife entfernten Trauben erkämpft, kümmert den Übereifrigen wenig. Schließlich ist die Entsäuerung mit Kalk oder Kaliumbicarbonat, die Aufbesserung mit Rübenzucker und diverse andere Helfer (z.B. gegen unreife Rotweintannine) schon erfunden.

In der Regel profiliert sich der Übereifrige mit einem auf Jugendlichkeit und Frische getrimmten Weinstil, was insofern sehr praktisch ist, als die Liebhaber solcher Weine diese normalerweise vor Jahresfrist konsumieren und ihnen und dem Produzenten damit ein (enttäuschender) Blick hinter die Fassade solcher Weine erspart bleibt.

Der Zweifler

Der Zweifler weiß zwar grundsätzlich über die Zusammenhänge zwischen Zuckerzu- und Säureabnahme in den Trauben Bescheid und kennt auch den Wert reifer und das Problem überreifer Trauben. Er zweifelt aber Jahr für Jahr an den von ihm selbst, von Kollegen und von offizeller Seite gemachten Reifeanalysen und tendiert deshalb dazu, die Lese mehr oder weniger unnötig nach hinten zu schieben, nur um eine zu frühe Ernte zu vermeiden.

Winzer dieser Gattung analysieren den Zuckergehalt der Trauben meist nicht in Form einer repräsentativen Mischprobe von 50 bis 200 Beeren aus einem Weingarten, sondern sie messen Beere für Beere. Auf diese Weise erhalten sie eine enorme Bandbreite an Zuckerwerten von Schatten- und Sonnentrauben und von reich- und wenigtragenden Rebstöcken.

Anstatt daraus einen Mittelwert zu errechnen, nehmen sie sicherheitshalber den niedrigsten gemessenen Wert als aktuellen Reifezustand des gesamten Weingartens an, und in Diskussionen im Kollegenkreis werden sie nicht müde, andere Reifedaten mit folgendem Satz zu entkräften: „Ja, aber auf der Schattenseite/oben am Hang/in trockenen Rieden/bei zu nassen Böden/bei jungen Reben/… sind die Trauben noch lange nicht so weit!“

Jahr für Jahr zeigen sie sich zwei Wochen vor der Ernte enttäuscht von der Entwicklung, um kurz darauf, in der Endphase der Hauptlese die – für sie überraschenden – hohen Zuckergehalte zu loben oder in Einzelfällen sogar zu bedauern.

Der Gestreßte

Obwohl er über die Zusammenhänge zwischen Wetter und Traubenreife besser Bescheid weiß, wird der Gestreßte ähnlich wie der Konstante oft von der Weinlese überrascht. Falsche Prioritäten, personelle Unterbesetzung und/oder eine schlechte Betriebsorganisation führen bei ihm dazu, dass er mit allen Arbeiten im Weingarten (zu) spät dran ist.

Dementsprechend kurz ist für ihn die Zeit zwischen dem letzten Arbeitsgang und der Ernte, und dementsprechend lang ist die Liste mit den auf diese Zeit aufgeschobenen sonstigen Dingen.

Während die meisten Kollegen schon bei der Ernte sind, ist der Gestreßte noch damit beschäftigt, Wein abzufüllen, um Platz für den neuen Jahrgang zu machen, Kunden zu beliefern, Buchhaltung und Betriebsgebäude in Ordnung zu bringen, Leergut zu sortieren, das Preßhaus auf Vordermann zu bringen und die Lesegerätschaften zu warten.

Über die Jahre und Jahrzehnte haben die Winzer dieses Typs aber offenbar damit leben gelernt. Gelegentlich bedauern sie zwar nach der Ernte, dass der eine oder andere Wein ob der zu späten Lese nicht so ausgefallen ist, wie erhofft. Besonders wichtig scheint ihnen aber das Resultat ihrer ganzjährigen Arbeit nicht zu sein, sonst würden sie ihren Erntetermin nicht mit solchen Aussagen begründen: „Für die Lese habe ich jetzt noch keine Zeit!“

Der Exzentriker

Während alle anderen Typen aufgrund ihres über die Jahre ziemlich ähnlichen Verhaltens sehr gut einzuschätzen sind, gibt sich der Exzentriker auch Kollegen gegenüber gerne geheimnisvoll.

Seine Spezialität sind mehr oder minder verworrene VerschwörungsTheorien über Reifeentwicklung, Charakter und Qualität des Jahrgangs. Nicht selten vertritt er dabei das Gegenteil dessen, worüber sich die anderen Kollegen relativ einig sind.

So konstatiert der Exzentriker zum Beispiel in einem Jahr wenig reifen Weißweintrauben eine besondere Fruchtigkeit (und erntet sie dementsprechend), im anderen hält er aber Trauben mit solider mittlerer Reife für grün, unausgewogen und qualitativ minderwertig.

Aber auch die Verwirrungstaktik ist dem typischen Vertreter dieser Winzer-Spezies nicht fremd: Gelegentlich verkündet er wochenlang, wie weit die Trauben trotz guter Zuckerwerte noch von der physiologischen Reife entfernt wären und dass er deshalb mit der Lese noch zuwarten werde – um dann trotzdem einer der allerersten zu sein, die Trauben von den Stöcken schneiden. (Dass das gleiche Spiel natürlich auch umgekehrt funktioniert versteht sich von selbst.)

Mitunter stilisiert der Exzentriker auch kleine Randbeobachtungen zu jahrgangsentscheidenden Faktoren hoch und glaubt sich damit im Besitz der alleinseligmachenden Wahrheit. Dementsprechend vehement verbreitet er seine Ansichten gefragt wie ungefragt und stellt sich solcherart gerne in den Mittelpunkt.

Da vieles davon wohl nur Show ist, wird man aus seinen Entscheidungen nicht wirklich schlau. Und will es oft auch gar nicht werden…

Das Herdentier

Manche Winzer delegieren die Entscheidung über den Erntebeginn und richten sich ohne eigene Überlegungen einfach nach den Kollegen. Wahrscheinlich ließe sich sogar eine Formel aufstellen, mit der man berechnen könnte, wie hoch die Weintraubentransport-Frequenz auf der Hauptstraße sein muß, um den Winzer X dazu zu bringen, mit der Ernte zu beginnen.

Spötter behaupten, dass die Herdentiere wohl auch im Jänner mit den Erntevorbereitungen starten würden, wenn zwei oder drei Leitwinzer mitten im Winter mit ihren Erntewägen über die Hauptstraße zu Reparaturen in die Werkstatt fahren würden.

Besonders lustig ist auch die Strategie mancher Vertreter dieser Gattung, den eigenen Erntebeginn an der Prognose eines Kollegen hochzurechnen. So nach dem Motto: „Wenn du aufgrund deiner Reifemessungen und der Langzeitwetterprognose planst, ab dem 10. September zu ernten, dann wird für mich wohl (ganz ohne nähere Analyse der eigenen Trauben) der 22. gerade recht sein.“

Der ewig Abwägende

Obwohl der ideale optimale Lesezeitpunkt das Resultat einer Gleichung mit etlichen bekannten Variablen und einigen Unbekannten ist, startet der Abwägende Jahr für Jahr den Versuch, sich durch die Beschaffung von so vielen Informationen wie möglich dem Ergebnis dieser Gleichung zumindest zu nähern.

Er mißt selbst regelmäßig Zucker, Säure und pH-Wert, verkostet Trauben, führt Strichlisten über den Bittergeschmack zerbissener Traubenkerne, zieht Reifeanalysen von offiziellen Stellen und Kollegen zu Rate, betreibt mehr oder weniger gefinkelte statistische Auswertungen der Daten der letzten Jahre, holt sich so oft es geht weitere Meinungen ein, konsultiert täglich mindestens drei voneinander unabhängige Wetterberichte und ist sich im Verlauf dieses Prozesses auch nicht zu gut, seine Ergebnisse binnen kürzester Zeit über den Haufen zu werfen.

Nichts liegt ihm ferner, als den Lesetermin dem Zufall zu überlassen. Sein Ziel ist eine Ernte, die so früh wie möglich, aber so spät wie nötig erfolgt, um damit das (qualitative und finanzielle) Risiko zu minimieren und gleichzeitig die Traubenqualität zu maximieren.

Als ewiger Tüftler ist er nach der Lese nur sehr selten hundertprozentig zufrieden. Wobei ihn aber das Gefühl, das Unmögliche wieder einmal versucht zu haben und dabei nicht völlig gescheitert zu sein doch einigermaßen dafür entschädigt…

Anmerkung: Die Beurteilung der Qualität eines Erntetermines ist innerhalb gewisser Grenzen mindestens ebenso subjektiv, wie die der Weinqualität. Spannender und vor allem unterhaltsamer als das Kritisieren des tatsächlich gewählten Termines ist daher die Beobachtung des meist über Jahre und Jahrzehnte immer wiederkehrenden Entscheidungsprozesses einzelner Berufskollegen.

2 Gedanken zu „Winzer-Typologie“

  1. wieder einmal eine sehr schöne Analyse, die sehr zum Schmunzeln anregt, erkennt man in Deinen Typen eben nicht nur die Kollegen, sondern auch durchaus sich selber wieder…

    Nachdem wir gestern die Ernte des Pinot Noir begonnen haben (nicht vergessen: Lisson liegt in Südfrankreich) – werde ich heute bei der Fortsetzung mal darüber nachdenken, in welche Kategorie ich gehöre. So ganz habe ich mich da noch nicht wieder erkannt…

  2. Hallo Iris,

    es gibt natürlich auch Mischformen 😉 und vielleicht habe ich ja auch noch einige Kategorien vergessen.

    Und das ich selber auch ein Teil des ganzen Zirkus bin versteht sich von selbst.

    Gute Lese, übrigens auch wir im NORDburgenland legen am Dienstag mit Muskat und Zweigelt los.

    Grüße

    Bernhard

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