Heute ist wieder Wein(blog)rallye-Tag, und diesmal hat Matthias von Social Wine das Thema vorgegeben. Alle deutschsprachigen Genussblogger, die Lust dazu haben befassen sich deshalb heute mit dem Begriff „Naturwein“.
Dass der gar nicht so einfach und eindeutig ist, zeigen die Recherchen, die Matthias schon vor dem Start der Weinrallye angestellt hat. Zwar zielen alle Erklärungsversuche auf eine reduzierte Rolle des Menschen bei der Weinwerdung ab, wie diese in der Praxis aussehen soll, bleibt aber völlig offen.
Die Puristen favorisieren im Weingarten gerne die biodynamische Wirtschaftsweise und bestehen im Keller auf einem Verzicht auf jegliche Zusatzstoffe inklusive SO2. Den Pragmatikern hingegen reicht schon eine „schonende“ oder auch „traditionelle“ Weinproduktion und sie entscheiden mitunter von Fall zu Fall, was unter den Hut „Naturwein“ paßt, und was nicht.
Mal sehen, ob die anderen Rallye-Texte mehr Klarheit bringen als meiner, der genaugenommen eigentlich ein Anti-Beitrag ist.
Wein ist das Verderben von Obst unter kontrollierten Bedingungen.
Jim Clendenen, Weingut Au bon Climat
Für mich ist Wein – wie „puristisch“ er auch immer gekeltert worden sein mag – kein Naturprodukt, sondern eine kulturelle Leistung.
Ohne das jahrtausendealte Wissen und die leitende Hand von Weinbauern und Kellermeistern würde die Menschheit die Früchte der Rebe nämlich auch heute noch ausschließlich so genießen, wie die Tiere: Ungepreßt, süß und unvergoren.
Nur durch die Beeinflußung und Kontrolle des natürlichen Verderbs von Trauben wird das Entstehen von Wein überhaupt erst möglich. Und allein mit dem Befüllen eines Gärbehälters prägt der Mensch die Ereignisse mehr, als das die Natur je könnte.
Aber, so werden die Naturweinfreaks jetzt einwenden, der Wein ist doch „natürlicher“ und „ursprünglicher“, wenn er (fast) ohne technische Hilfsmittel in eingegrabenen Amphoren gärt und reift, ohne durch den Zusatz von Schwefel verfälscht worden zu sein.
Irrtum. Wer sagt denn, dass Stahltanks gegen den Naturgeschmack des Weines sind? Die Traube? Und wer definiert, ob die massive Veränderung ihrer Traubenaromen durch einen ausgiebigen Oxidationsprozess eher im Sinn der Natur ist, als ein weitgehender Erhalt dieser Aromastoffe durch den Einsatz von SO2?
Zugegeben, das sind rhetorische Fragen. Denn wie seine Herstellung ist natürlich auch das Geschmacksbild des Weines vom Menschen geprägt. Mit Modewellen, kulturell bedingten Unterschieden und unscharfen Abgrenzungen zwar, aber immerhin eindeutig genug, um weltweit ziemlich einheitlich zum Trinken Wein dem Essig vorzuziehen. Und die Aromen von reifen Früchten jenen von matschigem, oxidierten Obst.
Wie? Sie meinen das wäre völlig unerheblich, weil sich „Naturwein“ natürlich primär in der Natur, also im Weingarten vom Nicht-Naturwein unterscheidet? Glückliche Reben in ihrer natürlichen Umgebung, allenfalls biologisch-dynamisch betreut und so.
Leider muß ich sie auch da enttäuschen. Auch der biologischste Weingarten hat mit den natürlichen Lebensbedingungen von Vitis vinifera nichts gemein. Der Mensch entscheidet nämlich, wo welche Sorte und welches Individuum davon auf welcher Unterlagsrebe in einem ziemlich unnatürlich engen Abstand zur Nachbarrebe in welcher Form wachsen darf.
Mitunter verändert er dabei auch massiv das Umfeld der Reben. Nicht wenige „ideale Terroirs“ beruhen auf jahrhundertealten Eingriffen, die heute garantiert am erbitterten Widerstand von Naturschützern scheitern würden.
Der Mensch entscheidet auch, wie viele Triebe wachsen, wie viele Trauben und Blätter. Er beeinflußt mittels Bodenbearbeitung, -begrünung und Düngung, wie viel Wasser und Nährstoffe den Reben wann zur Verfügung stehen.
Er definiert über den Pflanzenschutz wie groß der Streß durch Krankheiten und Schädlinge werden darf (und der Unterschied zwischen Bio und Nicht-Bio ist dabei weniger die Intensität als die Wahl der Mittel). Und mit dem Zeitpunkt der Lese legt er den Trauben- und damit den Weingeschmack nach seinen Vorstellungen fest.
Trotzdem erlebt der Begriff „Naturwein“ in den letzten Jahren einen kleinen Boom. Wie es scheint trifft er perfekt die Sehnsucht unserer modernen Welt nach dem Guten, Wahren und Schönen.
Dabei teilen manche „Naturwein“-Produzenten wohl dieses durchaus nachvollziehbare Gefühl. Und manche sehen darin eine gute Nische, um sich mit ihren Produkten auf einem heiß umkämpften Weinmarkt zu positionieren.
Dass die markantesten Vertreter der „Naturwein“-Stilistik aber jemals über die Gruppe der Abwechslung suchenden Weinsnobs hinauskommen und von einer breiten Konsumentenschicht nicht mehr als „schräg“ sondern als Kulturgut wahrgenommen werden, halte ich für unwahrscheinlich. Nicht alles anfangs Unverstandene hat die Qualität von Schiele, Picasso und Co.
Wie in der Musik ist nämlich auch beim Wein manch eine Interpretation von klassischen Werken mit Originalinstrumenten schlicht und einfach miserabel. Und manche gefühlvolle Darbietung mit modernster Technik grandios und authentisch.
Hallo Bernhard,
vielen Dank für diesen tollen Post … er spricht mir wirklich aus der Seele. Ich kann die Aussage „mein Wein entsteht im Weingarten“ schon nicht mehr hören. Alle sollten mal die Tatsache akzeptieren, dass nur Trauben im Weingarten wachsen. Es gibt keine Pflanze die Wein trägt. Wein entsteht immer erst im Keller und dazu ist der Mensch essentiell.
lg Franz
Herzlichen Dank, Franz!
Als „Gegenprogramm“ zu meiner Meinung empfehle ich für ein gepflegtes Kopfschütteln zwischendurch den unten via Pingback verlinkten Beitrag des Mythopia Blog…
Hallo Bernhard – gut, dass es auch kritische Stimmen gibt! Nur so kann eine Diskussion entstehen. Vielen Dank für deinen Beitrag!