Einen anderen Herrgott

Die letzten Wochen waren geprägt von den Lesevorbereitungen in Presshaus und Keller und von der genauen Beobachtung des Reifeverlaufes unserer Trauben. Letztere bildet die Grundlage für den Lesebeginn und die Reihenfolge der Ernte und ist heuer auf ganz andere Art wichtig als in den letzten Jahren.

In den vergangenen Hitzejahren ging es vor allem darum, nicht zu spät mit Überreife, zu hohem potentiellen Alkoholgehalt und zu wenig Säurestruktur zu ernten. 2020 hingegen sind die Reifemessungen wichtig, um nicht ungeduldig zu werden, sondern lange genug auf den richtigen Zeitpunkt zu warten.

Kontrollen dieser Art sind noch gar nicht so lange üblich. Noch in den 1980ern ernteten die meisten Weinbauern, wenn alle anderen auch ernteten, denn die Bedeutung der Reife auf Weinqualität und -stil war kaum bekannt oder egal. Außerdem wurden fast alle Weingärten ident so wie immer bewirtschaftet, weshalb es kaum Reifeunterschieden zwischen den Betrieben gab.

Seither hat sich die Weingartenbearbeitung jedoch sehr individualisiert. Unterschiede in Ertragsniveau, Blattfläche pro Stock, Bodenbearbeitung, Laubarbeit und viele anderen Faktoren führen zu deutlich voneinander abweichenden Reifekurven. Zusammen mit stärker differierenden Vorstellungen der Weinbauern vom angestrebten eigenen Weinstil führt das zu einem deutlich weniger einheitlichen Lesebeginn als noch vor 20 Jahren.

Obwohl das mittlerweile allen Kollegen bekannt sein sollte, werden deutlich von den eigenen Messungen abweichende Zuckergrade als Reifeindiz auch heute noch genauso angezweifelt wie früher. Gibt jemand an, seine Trauben hätten um ein, zwei Grad KMW mehr heißt es schnell verächtlich zweifelnd, er müsse wohl einen anderen Herrgott haben (sprich: sein Wert ist gelogen, weil er ja das gleiche Wetter hat wie alle anderen).

1993 durften mein Vater und ich uns das von sehr vielen Seiten anhören, als wir unsere ausgiebigen Messungen im Schaukasten des Weinbauvereines dem ganzen Ort – als Orientierungshilfe für den Lesebeginn gedacht – zugänglich machten. Deshalb diskutieren wir unsere Ergebnisse seither nur mehr mit wenigen gleichgesinnten Kollegen und halten uns sonst eher zurück.

Am Ende muss ohnehin jeder selbst wissen, was er tut. Und heuer führt das ungewohnter Weise dazu, dass wir, die wir fast immer früher dran waren als die meisten anderen im Ort ein paar Tage später mit der Weinlese beginnen.

Schreibe einen Kommentar

Time limit is exhausted. Please reload the CAPTCHA.