Ein Gastbeitrag von „Atterseereblaus“ Michael Eichinger
Die folgende Geschichte erzählt von jenem Schlüsselerlebnis, welches für mich wegweisend und ausschlaggebend für meine Liebe zum Wein war. Auch wenn dieses Ereignis bereits Jahre zurück liegt, so ist die Erinnerung daran noch so frisch, als ob es erst gestern passiert wäre…
In jenen Tagen stand das Weihnachtsfest bevor und mein Kollege sowie meine Wenigkeit befanden sich gerade ziemlich in Zeitknappheit (mE simuliert das Wort Stress die Unfähigkeit, sich die Zeit richtig einzuteilen, weswegen ich diesen Ausdruck von jeher tunlichst vermeide). Der Jahresabschluss sollte für die Buchhaltung vorbereitet werden und wir fühlten uns dabei wie Akteure in Mission impossible. Dies nicht zuletzt aufgrund der unerledigten, nicht enden wollenden Aktenberge, die sich vor uns auftaten.
Dementsprechend war die Stimmung im Büro gereizt. Als ob das noch nicht genug gewesen wäre, befand sich der einzige verfügbare Computer in jenem Dauerzustand, der auch heute noch unter dem Begriff „System error“ für graue Haare bei Administratoren sorgt. Laut fluchend verschafften wir unserem Ärger Luft indem wir über den scheinbaren Segen der Technik herzogen. In unserer Rage übersahen wir fast jenen älteren Herrn der in der Bürotür stand und namentlich nach meinem Kollegen und mir begehrte.
Misstrauisch musterten wir den Fremden, war doch schon sein militärisch zackiges Auftreten nicht sehr Vertrauen erweckend. „Mein Name ist Gaigg. Kommerzialrat Gaigg!“ Klingeling, jetzt läutete es. Büromaschinen Gaigg war einer unserer größten und zugleich wichtigsten Kunden. Unglaublich, dass sich der Chef höchstpersönlich bemühte und nach uns zwei Jungspunden verlangte. Kurz überlegte ich, ob beim letzten Auftrag vielleicht etwas verbockt wurde. „Wissen Sie, es ist mir wirklich ein Bedürfnis, mich persönlich bei Ihnen für die gute Zusammenarbeit mit einem kleinen Geschenk zu bedanken.“ Als ob er es geahnt hätte, zerstreute der Herr Kommerzialrat meine Befürchtungen.
„Da habe ich mir halt gedacht, ich nehme ihnen etwas mit.“ Augenblicklich schenkten wir dem netten Herrn unsere ungeteilte Aufmerksamkeit, denn das was wir hörten klang viel versprechend und bedeutete den ersten Lichtblick an diesem Tag. Geheimnisvoll holte er hinter seinem Rücken einen Karton hervor, legte ihn uns zugewandt auf einen der Aktenstöße und öffnete ihn. „Das sind zwei besondere Flaschen französischen Weins.“ fuhr unser Besucher sichtlich stolz fort.
Autsch! Ausgerechnet Wein! Kein Whisky oder wenigstens französischer Cognac, nein französischer Wein. Zur damaligen Zeit hatte ich keinen Bezug zum Rebensaft und insgeheim haderte ich sogar mit dem Erhalt dieses sinnlosen Geschenkes. Artig bedankten wir uns für die „noble Geste“, wünschten frohe Weihnachten und verabschiedeten Herrn Gaigg genauso schnell wie er in der Tür erschienen war. Man hatte ja schließlich zu tun.
Einen Tag vor Weihnachten schafften wir dann doch noch das Unmögliche und führten die Akten ihrer endgültigen Bestimmung zu. Kurz vor Dienstschluss hatte mein Kollege die glorreiche Idee, das nahende Weihnachtsfest doch entsprechend mit Alkohol zu würdigen. Schließlich hatten wir eine harte Arbeitswoche hinter uns und einen passenden Ausklang mehr als verdient. Was sollte da besser geeignet sein, als eine jener besonderen Flaschen des Herrn Kommerzialrat? Den Worten ließen wir die Taten folgen und…
Fassungslos und angeekelt über den grauenvoll schmeckenden Glasinhalt wunderte mich der Gesichtsausdruck meines Gegenübers, der dreinblickte, als ob er ihn eine Grapefruit gebissen hätte, überhaupt nicht. Das sollte ein besonderer französischer Wein sein? Von wegen Grande Nation! Kein Wunder wenn die Franzosen beinahe den Krieg verloren und außer der französischen Sprache offensichtlich nichts gelernt hatten. Mit solcherlei Attitüden ausgestattet, konnte doch wohl kein anderer Schluss zulässig sein als der, dass da nichts Intelligentes zu erwarten sei, selbst wenn es der Wein des französischen Königs persönlich gewesen wäre.
Kopfschüttelnd betrachteten wir den Inhalt der extra für diesen Zweck aus dem Kellerarchiv geholten, noch kartonkalten Biergläser. Etwas enttäuscht stöpselten wir die angebrochene Flasche zu, stellten sie ins Regal unserer Dienstkammer und entschädigten uns mit einem großzügigen Schluck Kornschnaps, der sicherheitshalber für Verdauungsprobleme immer bereit stand. Dieser brannte zwar wie toll in der Kehle, bestätigte aber wenigstens unsere so hohe Meinung von diesem offensichtlich missratenen Wein.
Nach dem Jahreswechsel, der unrühmliche Vorfall mit dem Wein war längst vergessen, fanden sich mein Kollege und ich wieder zur Arbeit ein. Zugegeben, etwas lustlos und den vergangenen Feiertagen in Gedanken noch nachhängend, aber immerhin waren wir körperlich anwesend.
„Guten Tag die Herrn!“ unterbrach eine uns wohl bekannte Stimme die Stille des Raums und Kommerzialrat Gaigg spazierte gut gelaunt in unsere Kanzlei. „Na, wie haben wir denn die Feiertage verbracht? War das Christkind schön brav? Ja und, haben´s den Wein schon verkostet?“ Der Wein! Welch grauenvolle Erinnerung, welch absurde Frage. „Ja, alles gut hinter uns gebracht. Und der Wein war sehr gut!“ log mein Kollege während er auf seinen leeren Bildschirm starrte und Geschäftigkeit vorspielte. „Leider war die Flasche viel zu schnell leer!“
Da konnte ich mich einfach nicht mehr halten, Diplomatie war ja noch nie meine Stärke: „Also um ehrlich zu sein, Herr Kommerzialrat, hmm…tja… ich weiß nicht recht wie ich es sagen soll, aber der Wein war unter jeder Sau!“ So, jetzt war es zumindest gesagt! Was soll ich da lange herumlügen und für irgendetwas Begeisterung zeigen was keine verdient.
„Soso“ meinte der Herr Kommerzialrat. „Unter jeder Sau! Verstehe“, murmelte er sichtlich gekränkt. Ich versuchte die Situation zu retten indem ich irgend etwas Tröstliches von mir geben wollte, da zischte es messerscharf: „WIE haben sie denn den Wein getrunken?“
Was WIE? Alles hätte ich erwartet, vor allem eine Äußerung in Richtung Banausen, Ignoranten oder dergleichen, aber das nicht. Was sollte das auch? Warum nicht mit einer schlichten Beleidigung wie „undankbares Volk“ gekontert, aber nein WIE musste er fragen. Offensichtlich sah man mir meine Verwirrtheit an, denn nun folgte eine etwas detailiertere Fragestellung. „Nun meine Herren, bei diesem Wein ist es nicht unerheblich, wie er getrunken wurde, deshalb meine Frage.“ „Ach so,“ entgegnete ich schon etwas gefasster, „na wie werden wir ihn schon getrunken haben? Den Korken heraus und hinein ins Glas!“
„SIND SIE WAHNSINNIG!“kam es ebenso prompt wie empört. Ein Sturm der Entrüstung brauste auf uns hernieder und der ansonsten so gefasste Herr wirkte auf einmal alles andere als gefasst. „Einen solchen Wein frisch aus der Flasche? Ja, haben sie den gar keine Ahnung?“ Nein, hatten wir tatsächlich nicht und bis zu diesem Zeitpunkt machte ich mir auch gar keine großen Gedanken über etwaige Weinzeremonien, schmeckte für mich doch jeder Wein gleich. Oder zumindest fast jeder.
Unser Herr Kommerzialrat nahm mittlerweile wieder Haltung an und wie aus Zauberhand hielt er in der einen Hand eine leere Dekantierkaraffe und in der anderen ein Kellnerbesteck: „Sie haben doch sicher noch die zweite Flasche, nicht wahr?“ Natürlich hatten wir die noch und ich beeilte mich, sie herbei zu holen. In den folgenden Augenblicken wurden wir Zeugen eines für mich sehr beeindruckenden Zeremoniell. Das begann schon beim Abschneiden der Kapselfolie, die wir bei Flasche N°1 noch achtlos herunter gerissen hatten.
Dass das Kellnerbesteck am Korken angesetzt wurde bekam dieser vermutlich gar nicht mit, so sorgfältig und liebevoll geschah dies. Genauso gefühlvoll wie fachmännisch ging es weiter und der Flaschenhals in den Hals der Karaffe eingeführt. Bedächtig wurde die Flasche gerade soweit angehoben, dass der Inhalt in die Weinkaraffe hinüber fließen konnte. Das geschah so langsam, dass ich damals den Eindruck hatte, man könnte jeden einzelnen Weintropfen per Handschlag begrüßen.
Nachdem sich der Wein auf diese Art und Weise in seinem neuen Zuhause ausgebreitet hatte, klang die Stimme des Zeremonienmeisters bereits sehr versöhnlich. „Meine Herren, wir haben jetzt Zeit bis zum Abend. Auf Wiedersehen!“ sprach es und ließ uns zwei verdutzte Lappen sichtlich vergnügt zurück. Pünktlich zu Dienstschluss gab uns der Herr Kommerzialrat wieder die Ehre und diesmal verstanden wir, wie wichtig das WIE war.
Nicht nur, dass wir einen sensationellen Wein im mitgebrachten Weinglas genießen durften – auch das hatten wir noch sträflich beim ersten Mal vernachlässigt und ich will gar nicht daran denken, woraus wir da getrunken hatten – sondern auch das komplexe Aromen- und Duftspiel des nun groß aufspielenden Rebensaftes beeindruckte uns wahrlich. „Sehen sie meine Herren, so kann und soll ein großer Wein schmecken!“
Mehr musste uns auch nicht gesagt werden, denn ich schämte mich im Nachhinein noch dermassen, dass ich mir vorgenommen hatte, nie mehr wieder in eine solche Verlegenheit zu kommen. Und so kam es, dass dieses Ereignis der Grundstein meines nun über alle Maßen geliebten Hobbys wurde.
Neben unzähligen theoretischen und auch praktischen weinseligen Erfahrungen seit dieser Zeit bleibt mir aber immer noch der Wein des damaligen Abends lebhaft in Erinnerung: ein Chateau Leóville-Las-Cases Jahrgang 1982. Ich habe ihn seither niemehr im Glas gehabt.
2 Gedanken zu „Der Herr Kommerzialrat (Weinrallye #31)“